Maschinengenerierte Schönheitsideale

Digitale Medien können ein Mittel zur Selbstinszenierung sein. Filter, Selfies, Avatare und Profilbilder beeinflussen, wie Kinder und Jugendliche sich selbst wahrnehmen und wie sie von anderen gesehen werden möchten. In Apps wie TikTok oder Instagram und in Spielen wie Roblox oder Minecraft erschaffen sie digitale Abbilder ihrer selbst – mal spielerisch, mal angepasst an Schönheitsideale, die auf diesen Plattformen zelebriert werden. Auch KI-basierte Anwendungen wie Lensa AI, Zepeto oder My AI ermöglichen es, ein „perfektes Ich“ zu generieren, das oft glatter, schlanker und strahlender ist als die Realität. Diese Bilder wirken nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Sie beeinflussen das Selbstbild, formen Wünsche und setzen neue Vergleichsrahmen.

Diese Dynamiken lassen sich mit dem Modell der drei Wirklichkeiten nach Christian Doelker differenziert betrachten. Die physische Wirklichkeit umfasst das reale Selbst, also den Körper und das unveränderte Äussere. Die mentale Wirklichkeit beschreibt, was Menschen über sich selbst denken und empfinden, etwa den Wunsch, anders oder „perfekter“ zu sein. Die mediale Wirklichkeit entsteht durch Filter, digitale Abbilder und KI-generierte Bilder. Sie beeinflussen sowohl das Selbstbild als auch das soziale Feedback.

Je häufiger solche Darstellungen genutzt werden, desto fliessender werden die Grenzen zwischen diesen drei Wirklichkeitsebenen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage „Wer bin ich online?“, sondern auch: „Was sagt meine digitale Darstellung über mich aus – und wie verändert sie mein Bild von mir selbst?“ Kinder und Jugendliche sollten die Möglichkeit haben, solche Medieninhalte zu reflektieren. Sie sollen erkennen, wie idealisierte Avatare, gefilterte Gesichter oder digitale Feedbackmechanismen ihre Wahrnehmung beeinflussen und lernen, diese kritisch zu hinterfragen. Denn digitale Selbstbilder sind mehr als technische Spielereien – sie sind Teil eines komplexen Wechselspiels zwischen Ausdruck, Erwartung und Identität. 

Perspektiven im Überblick

Technologische
Perspektive

Filter und Avatare basieren auf algorithmischen Prozessen, die Gesichter erkennen, Merkmale verändern und Inhalte selektiv sichtbar machen. KI-Modelle und Plattformlogiken beeinflussen massgeblich, wie das digitale Ich entsteht und wahrgenommen wird.

Gesellschaftlich-
kulturelle Perspektive

Die digitale Selbstdarstellung hat Einfluss auf das Selbstbild von Kindern und Jugendlichen. Sie steht in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Schönheitsnormen, Zugehörigkeit und medialen Rollenbildern.

Anwendungs-
orientierte Perspektive

Kinder gestalten Avatare, nutzen Filter und posten Inhalte, um sich auszudrücken und Feedback zu erhalten. Dabei geraten sie jedoch auch in Spannungsfelder wie Zugangsbeschränkungen, Datenschutzprobleme, Kostenfallen oder Mobbing durch Bildmanipulation.

WarmUp

Alex bearbeitet seine Selfies häufig mit Filtern auf dem Smartphone. Besonders beliebt ist der „Glow-Filter“, da er die Haut glättet und dem Bild einen besonderen Glanz verleiht. Auch Alex’ Avatar im Spiel Roblox hat auffällige Merkmale: leuchtende Augen, glatte Haut und stylische Kleidung. Ungefilterte Bilder wirken auf Alex oft weniger ansprechend. In den sozialen Medien erhalten die bearbeiteten Bilder deutlich mehr Likes. Manchmal stellt sich Alex die Frage:

„Kann ich so sein, wie mein digitales Ich?”

Diese Geschichte verdeutlicht das Zusammenspiel der drei Wirklichkeiten: Die mediale Darstellung (Avatar oder Filter) beeinflusst die mentale Wirklichkeit (Selbstwahrnehmung), was wiederum Auswirkungen auf die physische Wirklichkeit (Stylingentscheidungen oder Schönheitsoperationen) haben kann.

Und wie ist das bei dir? Zeigt dein Profilbild auf Instagram, WhatsApp oder LinkedIn, wie du dich wirklich siehst, oder eher, wie du gesehen werden möchtest? Je häufiger solche Darstellungen genutzt werden, desto fliessender werden die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung. Dabei stellt sich nicht nur die Frage „Wie gebe ich mich online?“, sondern auch: „Was sagt meine digitale Darstellung über mich aus – und wie verändert sich mein Bild von mir selbst?“

Technologische
Perspektive

Digitale Filter, Bildbearbeitungs-Apps und KI-generierte Avatare beruhen auf algorithmischen Prozessen. Sie erkennen Gesichtsmerkmale, verändern Proportionen oder erzeugen fotorealistische Bilder auf Basis grosser Trainingsdaten. Tools wie Lensa AI oder Zepeto verarbeiten Bilddaten mithilfe von Convolutional Neural Networks (CNNs), erkennen Muster im Gesicht (z. B. Augenform, Kieferlinie, Hautstruktur) und verändern diese anhand plattformspezifischer Bewertungskriterien – etwa Symmetrie, Hautglätte oder visuelle „Attraktivität“. Dabei kommen Verfahren des unüberwachten Lernens zur Anwendung, etwa zur Klassifikation von Gesichtsformen, sowie überwachtes Lernen, das gezielt auf Merkmale trainiert wurde, die als besonders ästhetisch gelten – darunter hohe Wangenknochen, schmale Nasen oder volle Lippen. Diese Merkmale werden durch algorithmische Verstärkung betont und in den generierten Bildern oder Avataren systematisch reproduziert. So entsteht eine mediale Wirklichkeit, die von Nutzer:innen häufig als attraktiver empfunden wird als die physische Realität. Gleichzeitig beeinflussen Plattformlogiken durch automatisierte Vorauswahl und Filterung, welche Darstellungen sichtbar sind und durch Likes oder Reichweite belohnt werden. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das: Sie vergleichen sich zunehmend mit idealisierten, KI-optimierten Bildern – was ihre Selbstwahrnehmung prägt und verzerren kann. Diese technologischen Entwicklungen werfen zentrale Fragen auf: Wie funktionieren Filtertechnologien und bildgenerierende KI? Welche technischen Prinzipien – wie Mustererkennung, supervised learning und algorithmische Bewertung – liegen Avatar-Gestaltung und Bildmanipulation zugrunde? Und inwiefern entscheiden Algorithmen darüber, welche medialen Inhalte sichtbar werden? Diese Fragen sind entscheidend, um zu verstehen, wie tiefgreifend Technologie die Wahrnehmung von Selbstbildern beeinflussen kann.

Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive

Digitale Selbstdarstellung ist mehr als nur ein technischer Akt: Sie ist auch Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen, kultureller Schönheitsnormen und sozialer Zugehörigkeit. Influencer:innen, Vorbilder:innen und Gleichaltrige beeinflussen, was als attraktiv gilt. Likes, Kommentare und Shares wirken wie ein sozialer Spiegel und formen die mentale Wirklichkeit von Kindern und Jugendlichen.
Die mediale Wirklichkeit, in der sich digitale Avatare und Selfies bewegen, verstärkt stereotype Rollenbilder. Wer aus der Norm fällt, wird oft weniger beachtet oder sogar diskriminiert. Gleichzeitig nutzen Kinder diese Plattformen, um sich auszudrücken – ein Spannungsfeld zwischen Anpassung und Authentizität entsteht.
Dabei stellen sich Fragen danach, welche Schönheitsideale auf den Plattformen dominieren, wie digitale Rückmeldungen das Selbstbild beeinflussen und wie und warum eine stärkere Vielfalt in medialen Darstellungen gefördert werden kann und sollte. Die Auseinandersetzung mit diesen Aspekten hilft Kindern und Jugendlichen, ein kritisches Bewusstsein gegenüber gesellschaftlich vermittelten Bildern zu entwickeln.

Anwendungsorientierte Perspektive

Kinder und Jugendliche gestalten ihre mediale Identität aktiv mit. Sie erstellen Avatare, posten Inhalte oder bearbeiten Bilder. Dabei nutzen sie Apps wie Bitmoji, Pixton, Zepeto oder Lensa AI. Diese Anwendungen bieten Gestaltungsräume, unterliegen jedoch auch Einschränkungen durch Paywalls, Datenschutzprobleme oder gesellschaftliche Normen.  
In der physischen Wirklichkeit kann dies bedeuten, dass reale Merkmale verborgen oder verändert werden. Die mentale Wirklichkeit wird durch Rückmeldungen in den sozialen Medien geprägt. Anerkennung oder Kritik haben unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl. Die mediale Wirklichkeit wird dabei zur Bühne für Ausdruck und Inszenierung, aber auch zur Projektionsfläche für Ideale und Erwartungen. 
Das im Folgenden verlinkte Youtube-Video bietet einen anschaulichen Einblick in die Gestaltungsmöglichkeiten der Plattform ZEPETO. Es zeigt Schritt für Schritt, wie Jugendliche Gesichtsmerkmale, Frisuren und Outfits auswählen und dabei digitale Identitäten erschaffen. ZEPETO Face Tutorial (für Jungen und Mädchen)

Gesamtblick

Das Phänomen der maschinengenerierten Schönheitsideale zeigt: Digitale Selbstdarstellung ist kein oberflächlicher Trend, sondern ein komplexes Wechselspiel zwischen Technologie, Gesellschaft und Identität. Kinder bewegen sich in drei Wirklichkeiten – real, medial und mental –, die zunehmend ineinandergreifen. Eine zeitgemässe Medienbildung muss diese Zusammenhänge sichtbar machen, um Kinder dazu zu befähigen, sich bewusst und kritisch in digitalen Räumen zu bewegen. 

BY Konsortium MIA21
Dieser Beitrag ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0).

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