Soziale Medien verwandeln versteckte Geheimtipps in überlaufene Hotspots. Virale Posts bekannter Influencer*innen können dazu führen, dass nicht nur bekannte Tourismusorte noch grössere Beliebtheit erlangen, sondern auch Orte, die nie in grossem Umfang für den Tourismus erschlossen waren, von Besuchenden überströmt werden. Instagram, TikTok und Co. haben die Art, wie wir Reisepläne schmieden und Destinationen entdecken, verändert. Doch wie wird die digitale Aufmerksamkeit zum Fluch? Dieser Pincho untersucht das Phänomen des Over-Tourism durch soziale Medien und zeigt auf, wie digitale Plattformen zur Herausforderung für den Tourismus werden, aber auch wie sie helfen können, nachhaltigeren Tourismus zu fördern.
Perspektiven im Überblick

Welche Daten und Algorithmen bewirken, dass Reiseziele durch überproportionale Sichtbarkeit in den Over-Tourism getrieben werden?

Gesellschaftlich-
kulturelle Perspektive
Zwischen Instagrammability und Authentizität: individuelle und gesamtgesellschaftliche Auswirkungen von sozialen Medien auf den (Massen-)Tourismus.

Anwendungs-
bezogene Perspektive
Das Erstellen ästhetischer Bilder und Videos und das Teilen auf den grossen Plattformen führt zu Popularität.
WarmUp
Ein kleiner, eigentlich unscheinbarer Steg in der 400-Seelen-Gemeinde Iseltwald am Brienzer See. Seit der Veröffentlichung der koreanischen Serie «Crash Landing on You» auf Netflix (2019/20) und dem damit verbunden Hype in den sozialen Medien, müssen nicht nur die Iseltwalder, sondern auch die Transportunternehmen und Tourismusbüros Lösungen für tausende koreanische Gäste finden.

Öffne Instagram, TikTok oder youtube (shorts) und suche nach einem beliebten Reiseziel (z.B. #Santorini, #Bali, #Iceland). Beobachte 5 Minuten lang die Inhalte.
- Wie werden die Destinationen dargestellt?
- Wie wirken die Posts auf dich, wenn du das mit dem Lesen eines Reiseprospektes oder auch mit einer Naturdoku im Fernsehen vergleichst?
Technologische
Perspektive
Algorithmen als Reiseführer: Social Media Plattformen funktionieren als mächtige Empfehlungsmaschinen, die durch Algorithmen bestimmen, welche Reiseinhalte viral gehen. Bestimmte Destinationen werden besonders häufig angezeigt, während andere unsichtbar bleiben. Wie bei allen viralen Posts stecken von Unternehmen gezielt programmierte Engagement-basierte Algorithmen dahinter. Das heisst, Posts mit hohen Interaktionsraten (Likes, Shares, Kommentare, Betrachtungen, Betrachtungszeit etc.) werden bevorzugt angezeigt – und nicht unbedingt die zeitlich aktuellen oder die meiner Lieblingsaccounts. Der Algorithmus wählt somit insbesondere Posts von Accounts aus, die sowieso schon viele Follower haben und trifft damit für mich die Entscheidung mit dem Ziel, mich auf der Plattform zu halten. Wäre die Chronologie entscheidend, ob ein Post meiner Kontakte angezeigt würde, müsste ich auf den nächsten Post warten und würde so das Interesse an der Plattform (vorübergehend) verlieren.
Wenn also Influencer mit vielen Followern bestimmte Destinationen bewerben, verstärken die Algorithmen diese Inhalte überproportional. Das führt zu einem Schneeballeffekt: mehr Touristen vor Ort → mehr Content (Bilder & Videos) über den Ort → mehr Sichtbarkeit im Netz → mehr Interesse am Ort → noch mehr Engagement auf sozialen Netzwerken → noch mehr Touristen
Zusätzlich zu den «normalen» Engagement-basierten Algorithmen gibt es auf maschinellem Lernen basierende Vorschlagssysteme. Diese «lernen» durch die Masse an Daten auf den sozialen Netzwerken und lernen so auch als ästhetisch geltende Bilder zu bevorzugen. Diese Landschaften und Sehenswürdigkeiten werden somit wiederum häufiger angezeigt. Mit ihrer datengetriebenen Intelligenz lernen Plattformen kontinuierlich aus Nutzendenverhalten. Wenn Reise-Content hohe Engagement-Raten erzielt, produzieren die Algorithmen mehr davon. Hier wirken wieder diese selbstverstärkenden Kreisläufe, wie sie von den Filter Bubbles bekannt sind: Einzelne Destinationen werden überlastet, während andere völlig übersehen werden.
Weitere Daten werden aus den Standortkoordinaten generiert, die die Smartphones sammeln und automatisch mit dem Post verknüpft werden. Man nennt dies Location-Tagging. Diese Metadaten ermöglichen es Plattformen, geografische Cluster zu identifizieren und ähnliche Inhalte zu empfehlen. Ein Post kann so eine Kettenreaktion auslösen, bei der Algorithmen immer mehr ähnliche Inhalte vom selben Ort fördern.
Die technologische Perspektive auf das Phänomen Over-Tourism soll Aufschluss darüber geben, wie das Phänomen funktioniert. Ein grosses Problem ist allerdings, dass aufgrund der bewussten Intransparenz der Unternehmen die genaue Funktionsweise der Algorithmen undurchsichtig bleibt. Diese mangelnde Transparenz macht es schwer, die Auswirkungen vorherzusagen oder ihnen entgegenzusteuern.
Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive
Zwischen Instagrammability und Authentizität: Social Media hat eine neue Reisekultur geschaffen, in der die digitale Darstellung oft wichtiger wird als das tatsächliche Erlebnis. «Instagrammability» bedeutet die Eignung – in diesem Fall von Reisezielen und Motiven – für ästhetisch ansprechende Posts. Werden diese Posts weit verbreitet, wollen viele Personen das gleiche perfekte Foto in ihrem Profil zeigen können. Der Wert der authentischen, lokalen Erfahrung gerät in den Hintergrund.
Der dadurch recht schnell entstehende Over-Tourism, also die schnell ansteigende Nachfrage, führt dazu, dass die Preise zum Beispiel in Restaurants oder für den Transport in die Höhe schnellen und für Einheimische unerschwinglich werden. In kleinen Gemeinden kann die örtliche Infrastruktur den Strom von Besucherinnen und Besuchern nicht auffangen. Die Natur wird in Mitleidenschaft gezogen, wie im Beitrag von SRF am Beispiel von Grindelwald (27.9.25) deutlich wird: Tourist*innen parken ihre Leihwagen auf privaten Bauernhöfen oder hinterlassen den Müll auf den Weiden.
Eine weitere gesellschaftliche Auswirkung ist der durch soziale Medien entstehende Druck der Perfektion. Unrealistische Erwartungen an Reiseerlebnisse entstehen – zum Beispiel auch durch Filter. Die ständige Dokumentation und der Zwang zum perfekten Post können zu Reisestress und FOMO (Fear of Missing Out) führen.
Es sollen aber auch positive Aspekte Erwähnung finden. Durch die Möglichkeit, dass über soziale Medien jede*r zu*r Reiseberater*in werden kann, werden auch weniger bekannte Destinationen populär und haben die Möglichkeit sich touristisch und damit auch wirtschaftlich weiterzuentwickeln.
Anwendungsbezogene Perspektive
Um Anwendungskompetenzen anhand dieses Phänomens zu entwickeln, eignen sich zum einen Formen der produktiven Medienarbeit und zum anderen Übungen im Umgang mit Social Media Plattformen.
Das Aufnehmen von Landschaften oder Gebäuden in der eigenen Umgebung und die entsprechende Bearbeitung der Fotos zeigt den Schülerinnen und Schülern, wie einfach es ist und welche Tools und Funktionen genutzt werden können, um vermeintlich unscheinbare Orte populär werden zu lassen. Wichtig ist eine anschliessende Reflexion und Diskussion über die möglichen Folgen, wenn die Orte in der Umgebung der Schüler*innen nun von Over-Tourism betroffen wären (oder eben schon betroffen sind). Insbesondere Lösungsstrategien im Sinne eines nachhaltigen Tourismus sollten mit den Schülerinnen und Schülern thematisiert werden.
Weiterhin eignet sich die Social Media Plattform Opostum der PHZH als Übungsterrain. Dort können insbesondere Fragen wie das Location-Tagging direkt am Beispiel diskutiert werden.
Gesamtblick
Das Phänomen Over-Tourism durch Social Media ist lebenswelt– und alltagsnah und verbindet die Annäherung an die Funktionsweise von Social Media und der Wirkung von Engagement-basierten Algorithmen. Die Verbindung eines digitalen Phänomens mit den realen Auswirkungen für die Gesellschaft zeigt den Bedarf an Kompetenzentwicklung für ein Leben in der Mediengesellschaft.
Auf der individuellen Ebene eignet sich das Phänomen, um die Gefahren der «Fear Of Missing Out» (FOMO) für das Erleben der realen Welt mit den Kindern und Jugendlichen zu diskutieren und Lösungsstrategien zu thematisieren, wie man mit dem Drang und Druck, ständig etwas posten zu müssen, umgehen kann.
Auch wenn es natürlich schon immer touristische Auswirkungen hatte, wenn berühmte Filme an entlegenen Orten gedreht wurden, hat die Dynamik mit den sozialen Netzwerken und den Influencer*innen massiv zugenommen. Die «Instagrammability» eines Fotomotivs entscheidet letztlich über die Popularität und allen damit verbundenen positiven und negativen Auswirkungen für die Menschen, Tiere und Landschaften an diesem Ort.
BY Konsortium MIA21
Dieser Beitrag ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0).
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